Autor und Coach Andreas Riedel war bis April 2021 Leiter der DRK Jugendhilfestation Cuxhaven und arbeitet jetzt in der Erwachsenenbildung. Als Diplom-Sozialpädagoge und zertifizierter Multi-Familien-Trainer coacht er seit 20 Jahren Eltern und Kinder, 2020 ist sein Buch „Gespräche im Kopfbahnhof“ erschienen, das zweite ist in Arbeit. Im Interview spricht er über achtsame Kommunikation und wie Corona das Leben von Familien und seine Arbeit verändert hat.
Kuckuck: Was hat den Ausschlag zum Schreiben des Buches gegeben?
Andreas Riedel: In der Kinder- und Jugendhilfe habe ich viel Hilflosigkeit erlebt, wenn es um Themen wie Mobbing, Rassismus oder verbale Sexualisierung ging, also Gewalt in der Sprache. Ich wollte dann als Coach Kommunikationstrainings für Schulklassen anbieten, und bekam als Antwort, dass dies nur für ausgebildete Fachkräfte möglich sei. Oder für Autoren. Und weil ich ein „Nein“ gerne als Arbeitsauftrag verstehe, habe ich dieses Buch geschrieben. Darin finden sich die Geschichten, die ich in 20 Jahren als Multi-Familientrainer erlebt habe. Mein wichtigster Ansatz war, anderen mit meinen Erfahrungen zu helfen.
Dann richtet sich das Buch an Kinder und Jugendliche?
Auf keinen Fall. Aktuell überlege ich, aus dem Buch Bildungszeit-Kurse für Lehrkräfte zu entwickeln, denn es richtet sich nicht explizit an Kinder oder Jugendliche, sondern erklärt eigentlich jedem ohne den Zeigefinger zu erheben, warum zum Beispiel Begriffe wie „Zigeunerschnitzel“ oder der „N….-Kuss“ nicht benutzt werden sollen. Besonders durch das Internet wird heute ja nicht mehr konstruktiv gestritten, sondern polemisch verachtet.
Also ist das Internet schuld an einer fortschreitenden Verrohung der Sprache?
Nicht falsch verstehen: Ich lebe quasi online und nutze das Internet dauernd und gerne. Aber man muss sich dem nicht hingeben. Ich kann versuchen, etwas gegen gewaltvolle Sprache oder destruktive Streitkultur zu tun. Mit dem Buch möchte ich einen leichten Zugang zu einem schwierigen Thema bieten. Daher ist auch die Sprache nicht akademisch oder intellektuell belehrend, sondern alltagstauglich. Ich glaube, jeder kann seinen Beitrag zu einer besseren Gesellschaft leisten, wenn man bewusst auf seine eigene Sprache achtet.
Was genau macht ein Multi-Familientrainer?
Ich erkläre mal an einem Beispiel: Eine Mutter hat ein Kind, das schulabgängig ist, sie bringt ihren Sohn morgens zur Schule, er haut hinten übers Klofenster wieder ab. Da bist du ja machtlos als Mutter oder Vater. Im systemischen Training bringen wir drei oder vier Elternteile mit ähnlichen Problemen zusammen, und im Gespräch entwickeln sich die typischen Prozesse. Was in der Gruppendynamik dann immer als erstes passiert, ist die Erkenntnis: „Ich bin gar keine schlechte Mutter,“ oder „mein Kind ist gar nicht gestört“. Im zweiten Schritt werden die Bindungen zwischen Kindern und Eltern wieder gestärkt. Sie stellen fest, dass sie da etwas ganz Tolles miteinander haben. Die Familie fühlt sich wieder als Verbund und merkt, dass sie nur verlernt hat, miteinander zu kommunizieren. Die Kinder und Eltern stellen fest, dass sie nicht schlecht sind, sondern einfach nur Probleme haben. Das ist der erste Schritt raus aus der Verzweiflung, zurück zu einem konstruktiven und wertschätzenden Umgang miteinander. Für jedes Problem gibt es eine Lösung.
Es gibt einfach Dinge, die nicht gut laufen, auch wenn du nichts falsch machst.
Nach einem Jahr Corona in der Jugendhilfe: Welche Veränderungen haben Sie beobachtet?
Wir haben immer versucht, Kontakt zu den Familien zu halten, sei es per Besuch, telefonisch oder über Facetime. Da sind Familien, die mit drei oder vier Kindern in 3-Zimmer-Wohnungen leben und eine Zeit lang nicht mal auf den Spielplatz durften. Da waren die Spannungen schon extrem, und die Fallzahlen von häuslicher Gewalt schnellten im ersten Lockdown erschreckend in die Höhe. Wir hatten den Fall, dass vor unserer Einrichtung eine Familie stand und wir den 12-jährigen Sohn durch den Keller hinten raus in die Notunterbringung herausschleusen mussten. So etwas hatten wir vorher nie.
Welche Veränderungen stellen Sie konkret bei den Kindern und Jugendlichen fest?
Es kommt immer auf das Alter und auf die soziale Interaktionsfähigkeit des Kindes an. Mein Sohn wurde im Sommer 2020 eingeschult, aber er kennt die Schule kaum. Dort lernt man nicht nur Mathe und Deutsch, sondern auch das soziale Interagieren in Gruppen. Das wird uns auf die Füße fallen und mindestens eine Generation wird nach der Pandemie Probleme im Sozialverhalten haben. Jugendliche, die letztes oder dieses Jahr keine Abschlussfahrt oder -feier haben, verpassen einfach Meilensteine in der Entwicklung. Und was auch schlimm ist: Die Jugendlichen werden kriminalisiert. Wenn sie sich heimlich in Parzellen treffen müssen, weil sie den sozialen Kontakt ganz natürlich brauchen. Oder wenn 16-Jährige, die zu dritt friedlich in der Sonne am Osterdeich sitzen, eine Ordnungsstrafe zahlen müssen, dann läuft da was falsch, denn beim nächsten Mal rennen sie weg, sobald sie Leute vom Ordnungsamt sehen. Damit wird eine Anti-Haltung provoziert.
Damit kannst du innerhalb von Sekunden eine komplette Jugend verbrennen.
Inwiefern hat sich das Verhalten der Kinder verändert?
Da ist ein besonderer Aspekt von Gewalt: Dadurch, dass Kinder öfter und länger vor dem Fernseher geparkt werden, nimmt die Gewalt auch unter Kindern zu. Durch den extrem eingeschränkten Aktionsradius werden sie aggressiv. Auch das Phänomen des „Sexting“ hat stark zugenommen. Da werden intime Videos von Mitschüler:innen aufgenommen und im Internet herumgezeigt. Damit kannst du innerhalb von Sekunden eine komplette Jugend verbrennen. Unter Corona haben neue Formen der Gewalt extrem zugenommen und es muss noch viel mehr Aufklärungsarbeit geleistet werden. Außerdem stelle ich eine große Zunahme von Depressionen fest. Erschwerend kommt hinzu, dass das Helfersystem blind wurde. Kinder werden nicht mehr gesehen, und die Auswirkungen sind kaum absehbar.
Sie haben drei Wünsche frei. Den ersten bei der Politik, den zweiten bei Eltern und der dritte geht an die Kinder.
Mein Wunsch an die Politik lautet: Statt so viel Geld in den Verteidigungshaushalt zu stecken, investiert es bitte in die Bildung unserer Kinder. Es ist beschämend, dass wir in einem der reichsten Länder der Welt leben, aber immer noch Schulen ohne funktionierendes W-LAN haben und in der Digitalisierung absolutes Entwicklungsland sind. Von Eltern wünsche ich mir, dass sie sich öfter mal daran erinnern, wie es war, ein Kind zu sein. Und mein dritter Wunsch lautet: Bleibt so lange Kind, wie möglich. Ich zum Beispiel bin ein 54-jähriges Kind.
Weiterführende Informationen:
Kontakt und Buchungen für Leseabende über Jörg Flehnert auf kunstkind.de/andreas-riedel
Infos zu Multi-Familientrainings der Bundesarbeitsgemeinschaft BAG MFT
Handbuch der Mulitfamilientherapie, Eia Asen und Michael Scholz, 2017, Carl-Auer-Verlag, ISBN 978-3-8497-0192-5