In Deutschland leben 7,5 Millionen Menschen, die nicht richtig lesen und schreiben können, obwohl alle eine Schule besucht haben. Eine Ursache dafür: Sprachprobleme, die sich schon vor Schulbeginn aufbauen. Was hilft? Eltern sollten regelmäßig mit ihren Kindern lesen! Hört sich banal an, ist aber der Schlüssel für eine erfolgreiche Sprachentwicklung. Und die ist enorm wichtig: Wenn Kinder Lese- und Sprachdefizite haben, kommen sie in allen Fächern nicht mit. Lesen und Sprache sind die Basis, auch für Mathe oder Sachkunde. 2015 wurde bundesweit bei 715.000 gesetzlich versicherten Kindern eine Störung der Sprachentwicklung diagnostiziert. Vier Jahre vorher waren es 648.000 Kinder. Die beteiligten Kinderärzte sehen dafür vor allem soziale Ursachen.
Margret Schaaf ist 1. Vorsitzende des Bundesverbandes von Mentor – Die Leselernhelfer: Im Interview verrät sie ihre Tipps für Eltern und Großeltern, die ihre Kinder fördern möchten.
Kuckuck: Wie können Eltern und Lehrer überhaupt feststellen, dass ein Grundschulkind Leseprobleme hat?
Margret Schaaf: Lesen, Vorlesen und Zuhören sind die Basis für die Sprachentwicklung der Kinder und dieser Prozess fängt lange vor der Schule an. Leider liest gut ein Drittel der Eltern zu selten vor. Für die Kinder hat das gravierende Folgen: Sie kommen mit großen sprachlichen Lücken in die Schulen. Die Eltern können das zum Beispiel daran merken, dass ihren Kindern der Schulunterricht nicht gefällt. Sie können ihm oft einfach nicht folgen, denn vielen Kindern ‚fehlen’ die Worte. Sie kennen sie nicht, und können Texte nicht verstehen. Betroffen sind deutsche Kinder genauso, wie Kinder mit Migrationshintergrund. Sie brauchen dringend Unterstützung, denn Lesen und Sprache sind die Basis für alle anderen Fächer und den Schulabschluss.
Was raten Sie Eltern, deren Kinder sich mit dem Lesen schwer tun?
Der Rat an die Eltern kann nur sein, mit ihrem Kind gemeinsam zu lesen, über die Bücher zu sprechen und dabei viel Freude zu haben. Lesevorbild sein und Ihren Kindern durch das Lesen Zeit und Zuwendung schenken, am besten jeden Tag. So entdecken viele Kinder das Lesen als beglückend, spannend und entspannend und erweitern dabei automatisch ihren Wortschatz, entwickeln Fantasie und Empathie. Das ist viel besser als das Kind zum regelmäßigen Üben aufzufordern. Dabei wird Lesen nämlich schnell zur Strafe, die dem Kind vor allem zeigt, was es nicht gut kann. Bei Leseproblemen Ihrer Kinder sollten Sie aber auch den Rat der Lehrer und Kinderärzte einholen. Manchmal reicht es die Sehstärke zu überprüfen, in anderen Fällen, wie z.B. Legasthenie brauchen die Eltern und das Kind fachmännische Unterstützung.
Gibt es Techniken oder Bücher zur Leseförderung, die Sie empfehlen?
Es gibt gute, wissenschaftlich fundierte Förderansätze und ganz tolle Kinderbücher. Es geht aber auch ganz einfach: Nehmen Sie sich Zeit für das Kind, gehen Sie auf seine Interessen ein und sorgen Sie für kleine Erfolge. Lesen Sie abwechselnd und unterstützen Sie ihr Kind bei seinen Wörtern oder Passagen. Schafft ein Kind es, ein ganzes Buch vom Anfang bis zum Ende zu lesen, ist es stolz. Egal, wie einfach oder kurz die Geschichte ist. Suchen Sie Themen aus, die das Kind packen. Auch Comics oder Star Wars sind geeignet. Wenn das Kind aufmerksam folgt, lernt es zu lesen und erweitert seinen Wortschatz, versetzt sich in andere Personen und Welten. Man kann wirklich jedes Kind für’s Lesen begeistern. Bauen Sie niemals Druck auf. Das Kind soll sich wohl und sicher fühlen, es ist kein Schulunterricht mit Noten.
Wo können sich Eltern Hilfe holen?
Sie können die Lehrer fragen, ob die Schule mit einem Verein von MENTOR – Die Leselernhelfer kooperiert oder mit einer anderen Leseinitiative und Ihr Kind dadurch in der Schule Lesestunden mit einer ehrenamtlichen Mentorin oder einem Mentor bekommen kann. Die beiden treffen sich dann einmal pro Woche mindestens ein Jahr lang zur Lesestunde. Lesezeit ist dann besonders wertvoll, wenn das Lesen in einer 1:1-Situation in einer entspannten Atmosphäre stattfindet, bei der sich ein Vertrauensverhältnis einstellt. Dabei können die Erwachsenen gezielt auf die Fragen des Kindes eingehen und ihm den Sinn der Worte und Texte erklären. Kinder können dadurch ihre Sprache aufbauen. Sie können Texte selbst erfassen und sich eine Meinung darüber bilden. Andere Angebote, bei denen mehreren Kindern gleichzeitig vorgelesen wird, sind gut, um den Weg zu Sprache und Literatur für Ihr Kind überhaupt erstmal zu öffnen.
Margret Schaaf initiierte in Hürth im seit 2006 bestehenden Verein der Lesefreunde Hürth e.V. eine MENTOR-Gruppe, die sie bis heute noch leitet. Seit Juni 2013 ist sie Vorsitzende des Bundesverbandes. Der Bundesverband von MENTOR – Die Leselernhelfer fördert die Kinder nach dem 1:1 Prinzip. Insgesamt treffen sich bundesweit über 11.000 Mentorinnen und Mentoren mit 14.000 Kindern und Jugendliche in den Schulen zu Lesestunden.