Die schlechte Nachricht zuerst: Sitzenbleiben ist keine Lösung, zumindest keine gute. Und doch trifft es jedes Jahr vor Ferienbeginn zwei bis drei Prozent der Schüler:innen in Deutschland: Sie werden nicht in die nächste Klasse versetzt. Nach Ausbruch der Corona-Pandemie war die Quote der Wiederholenden kurzfristig deutlich niedriger – das lag aber an veränderten Regelungen für die Versetzung. Schon im Schuljahr 2021/2022 stieg sie bundesweit wieder auf 2,4 Prozent und war damit sogar leicht höher als noch vor Corona.
Pädagogisch sinnvoll?
15 bis 30 Prozent aller Schulkinder, je nach Bundesland, wiederholen im Laufe ihrer Schulzeit eine Klasse. Häufig empfinden sie das Sitzenbleiben als beschämend, als persönliches Versagen. Und das wiegt schwer, denn es schwächt das Selbstwertgefühl. „Grundsätzlich ist eine Klassenwiederholung pädagogisch nicht sinnvoll, da die Schüler:innen nicht in allen Fächern, sondern nur in zwei oder drei schlechte Noten haben. Wichtig ist, das grundlegende Problem dahinter, die Ursachen zu suchen: Ist das Kind überfordert oder unterfordert und strengt sich deshalb nicht mehr an? Hat es Prüfungsängste entwickelt? Wird es in der Schule geärgert? Ist es unmotiviert oder lernfaul? Besser sind stützende Maßnahmen in kritischen Fächern, zum Beispiel durch Lerncoaching, Förderunterricht oder Nachhilfe. Eine schulpsychologische Diagnostik ist notwendig, etwa bei Lese- Rechtschreibschwäche, bei Schulangst oder mangelnder Lernmotivation“, erklärt Klaus Seifried, Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen. Der Diplom- Psychologe, Lehrer und approbierte Psychotherapeut berät Schulleitungen und Lehrkräfte zu schulpsychologischen Fragestellungen.
Die Mehrzahl der wissenschaftlichen Studien zeigt: Sitzenbleiben hat meist nicht die erhofften positiven Effekte. Im Gegenteil: Mittel- und langfristig werden die angestrebten Ziele oft nicht erreicht. „Im ersten Jahr läuft es besser, es gibt einen Lernzuwachs, danach sinken die Erfolge ab, wenn die Ursachen für das Lernversagen nicht geklärt sind“, erklärt Seifried.
Warum wird das Sitzenbleiben nicht abgeschafft, wenn es so wenig bringt? Nach Meinung des Berliner Psychologen sind zwei Fehleinschätzungen daran schuld: Zum einen die Annahme, Kinder im gleichen Alter innerhalb einer Schulform seien eine homogene Gruppe und könnten alle das gleiche leisten. Zum anderen die Idee, dass lernstarke Schüler:innen davon profitieren, dass die lernschwächeren aussortiert werden.
Erfolg ist die beste Motivation
Tatsächlich gibt es nur eine Sache, die nachweislich motiviert: Erfolg. „Wenn Schüler:innen nicht motiviert sind und lieber die Schule schwänzen, dann hilft auch eine Klassenwiederholung nicht“, sagt Seifried. Krisen können den Lerneifer dämpfen: Die Pubertät ist eine davon. Plötzlich sind andere Dinge wichtiger als die Schule. „Wenn Jugendliche anfangen Alkohol zu trinken, zu kiffen oder nur noch am Computer zocken, dann würde das Sitzenbleiben ihre Krise noch verstärken. Stattdessen brauchen sie Beratung und Hilfe,“ so der Therapeut. Die Bundesländer Hamburg und Berlin haben die Klassenwiederholungen schon weitgehend abgeschafft. „Das spart Geld, das man in Lerncoaching und Förderung stecken kann“, sagt Seifried.
Wiederholen: die positiven Seiten
Grundsätzlich hält auch Psychologe Guido Dielen aus Münster, Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen, die Strategie des Sitzenbleibens für eher nachteilig. Doch sie kann sich – in bestimmten Fällen – auch bewähren. „Vereinzelte Studien haben leicht positive Effekte auf Motivation und Selbstbild beobachtet. Möglicherweise hängt das mit einem Entwicklungsvorsprung zusammen. Wer die Klasse wiederholt, ist älter, fühlt sich gegenüber den jüngeren kompetenter und tritt selbstbewusster auf“, erklärt er. Teilweise kann auch der Ansporn nach einem Scheitern höher sein, besonders dann, wenn sich die Kinder und Jugendlichen in der neuen Klasse besser betreut fühlen. Und es gibt ein weiteres Plus: Ein neuer Klassenverband ist ein neuer sozialer Rahmen. Für Kinder, die sich in der alten Klasse unwohl, ausgegrenzt oder abgelehnt gefühlt haben, eröffnet sich eine neue Chance.
Selbst wenn die Leistungsdefizite gar nicht versetzungsrelevant sind, kann eine Ehrenrunde etwas bringen. „Wenn ein Kind oder Jugendlicher aufgrund einer Krankheit über längere Zeit nicht zur Schule gehen konnte oder bei einem Umzug in ein anderes Bundesland kann ein zweiter Anlauf sinnvoll sein“, sagt Seifried. Auch Kinder, die stark entwicklungsverzögert sind, profitieren vom Wiederholen. Manche Schulanfänger:innen sind zu früh eingeschult, sie sind kognitiv schulreif, aber sozial-emotional noch nicht reif, um Klassenregeln einzuhalten und sich in die Klassengemeinschaft einzufügen. Eine Erfolgsgeschichte ist zum Beispiel die von Phil, dessen Mathe-Note in der 9. Klasse nicht für eine Versetzung reichte. Damals kam er mit seiner Klasse und mit einigen Lehrkräften nicht gut klar. Er wiederholte die Neunte. „Der neue Lehrer hat mich motiviert. Ich habe die Schule bis zum Abitur durchgezogen. Im schriftlichen Abi hatte ich in Mathe eine Eins. Die Leistung habe ich in der mündlichen Nachprüfung bestätigt“, sagt er heute nicht ohne Stolz.
Warnzeichen erkennen
Schlechte Noten können ein Indikator für größere Schwierigkeiten sein, zum Beispiel für persönliche oder psychische Probleme, aber auch familiäre oder soziale Schwierigkeiten. „Möglichst frühzeitig Hilfsangebote annehmen“, rät Dielen. Das setzt natürlich voraus, dass es solche Angebote gibt und dass sie niederschwellig sind. Und die Schüler:innen müssen reflektiert genug sein, den Bedarf selbst zu erkennen. „Wenn die Initiative von den Eltern ausgeht, wäre ein einfühlsames, nicht abwertendes Gespräch mit dem Kind hilfreich, möglicherweise zusammen mit einer Beratungsstelle“, sagt Dielen. Und wenn die Unterstützung von zuhause fehlt? „Auch wenn Eltern in Mathe, Englisch oder Deutsch wegen mangelnder Kenntnisse keine Hilfe sind: Sie können emotional unterstützen, in den Arm nehmen“, sagt Seifried. Auf fachlicher Seite ist die Schule gefragt, sprich: die Lehrkräfte. In der Ganztagsschule gibt es Hausaufgabenbetreuung. Wenn dieses Angebot fehlt, gibt es über das Jugendamt Möglichkeiten, eine Hausaufgabenbetreuung und gezielte Förderung zu finden.
Was können Eltern tun?
Keine Vorwürfe, keine Strafen! Äußert auch nicht, dass ihr von eurem Kind enttäuscht seid. Ebenso wenig solltet ihr die schulische Ausbildung abwerten, im Sinne von: „Macht nichts, Schule ist nicht so wichtig.“
Unterstützung: Sagt und vermittelt eurem Kind, dass ihr es unterstützt und ihm helft, die Schule zu schaffen. Schaut auf die Stärken eures Kindes, lobt das, was es gut macht – auch in der Schule. Macht Mut, auch wenn unter einer Arbeit nicht die erhoffte Note steht: „Beim nächsten Versuch schaffst du es! Wir helfen dir!“
Dranbleiben: Bleibt mit der Schule und den Fachlehrkräften in Kontakt. Haltet euch über die Leistungen oder kritische Defizite auf dem Laufenden. Spätestens wenn ein blauer Brief ins Haus flattert, ist das ein Warnsignal, dass die Versetzung gefährdet ist. Dann müsst ihr gemeinsam mit eurem Kind aktiv werden.
Beraten lassen: Es gibt eine ganze Reihe von Maßnahmen, die unterstützen können: Lerncoaching, Förderunterricht, Nachhilfe, Diagnostik und schulpsychologische Beratung bei ADHS, Lese-Rechtschreibschwäche, Rechenschwäche, Schulangst.
Arbeitsplan: Erstellt gemeinsam einen Plan. Er sollte mit den Fächern beginnen, die dem Kind leichter fallen. Erst dann kommen die Fächer dran, die für euer Kind schwierig sind.