Wie liest man Babys und Kleinkindern eigentlich richtig vor? Welche Bücher sind hierfür sinnvoll und was kann ich tun, wenn mein Kind kein Interesse an Büchern zeigt? Dr. Melanie Jester ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Lese- und Medienforschung und beantwortet unsere Fragen.
Kuckuck: Das Institut für Lese- und Medienforschung setzt sich für Lesekompetenz und Zugänge zum Lesen ein. Warum ist das so wichtig?
Dr. Melanie Jester: Studien, die die Effekte des Vorlesens bei Kindern untersuchen, zeigen deutlich, dass Kinder, denen bereits früh und regelmäßig vorgelesen wird, davon in vielfältiger Weise profitieren. In erster Linie wirkt es sich positiv auf die Sprachentwicklung aus. Zudem kommen die Kinder mit Schrift in Kontakt – sie lernen erste Buchstaben kennen und tun sich später in der Schule leichter mit dem Lesen lernen. Darüber hinaus ist Vorlesen für die kognitive und soziale Entwicklung von Kindern wichtig und wirkt sich nicht zuletzt auch positiv auf die Eltern-Kind-Bindung aus – schließlich sollte das gemeinsame Vorlesen vor allem Spaß machen. Trotzdem ist Vorlesen kein Automatismus nach dem Motto, „Wenn ich früh anfange, dann hat mein Kind später keine Probleme in der Schule“. Aber mit dem frühen Vorlesen erhöhen sich die Chancen, dass Lesen für Kinder selbstverständlich wird und sie begreifen, dass überall in der Welt Buchstaben sind, die Informationen ergeben.
Bei den Lesetipps der Stiftung Lesen finde ich Buchempfehlungen für Babys ab vier Monaten. Was bedeutet Vorlesen mit so kleinen Kindern überhaupt – zählt auch das Anfassen, in den Mund nehmen und damit Spielen dazu?
Sie haben recht. „Klassisches Vorlesen“ ist mit Kleinkindern in der Regel nicht möglich, wenn damit gemeint ist, dass man vorne am Buch anfängt und dann den Text jeder Buchseite vorliest. Das Vorlesen von Bilderbüchern bietet aber auch andere Möglichkeiten: Die Bilder können gemeinsam betrachtet und einzelne Elemente daraus benannt werden. Man verweilt länger auf den Seiten mit dem Rettungsauto oder Tieren. Dafür werden andere Seiten schnell überblättert – das ist ok! Bei vorgegebenen Texten können eigene Erzählungen mit einfließen, Sätze vereinfacht werden oder nur die Inhalte nacherzählt werden, die für das Kind oder die Geschichte bedeutsam sind.
Macht es einen Unterschied, welche Bücher wir anschauen, oder ist das am Anfang zweitrangig?
Je jünger die Kinder sind, desto kürzer ist die Aufmerksamkeitsspanne, in der die Kleinen aktiv etwas aufnehmen können. Es gilt, diesen gemeinsamen Moment zu finden und zu nutzen. Dabei ist das erlaubt, wozu Eltern und Kind Lust haben und primär natürlich, was das Kind interessiert. Schon manche Ein- oder Zweijährige zeigen klare thematische Präferenzen – es spricht nichts dagegen, ein Kindersachbuch anzuschauen, obwohl die Altersangabe auf dem Buch für ältere Kinder ist. Immer mit der Idee, dass das Vorlesen dann eher flexibel und weniger klassisch ist.
Wie sinnvoll sind als Buch getarnte Spielzeuge wie etwa Rassel-, Klavier- oder Puzzlebücher?
Diese Spielzeug-Bücher sind für einen Zeitraum für Babys attraktiv und erfüllen einen Sinn: Babys schmecken, tasten, fühlen, hören und probieren aus „was das Ding kann“. Damit ermöglichen sie Entwicklung in anderen Bereichen. Spielen die Kinder allein damit, wird sich dies nicht direkt auf die Sprachentwicklung auswirken. Spielt jedoch ein Elternteil aktiv mit und benennt, was da gerade passiert, dann bieten diese „Bücher”, wie andere Spielzeuge auch, die Möglichkeit zur sprachlichen Anregung.
Was kann ich tun, wenn mein Kind auch mit drei Jahren noch kein Interesse an Büchern zeigt?
Vielleicht ist es hilfreich, sich zu überlegen, warum das Kind bislang kein oder wenig Interesse gezeigt hat: Verspürt es die Erwartungshaltung des Elternteils, dass es stillsitzen und nur zuhören soll? Oder darf es sich einbringen und Fragen stellen? Wann wird das Vorleseangebot gemacht? Vielleicht muss erst getobt werden, bevor man „schon wieder“ etwas Ruhiges macht? Wie wird das Vorleseangebot gemacht? Gibt es die Auswahl zwischen Vorlesen und Spielen, dann ist das gemeinsame Spielen vielleicht attraktiver. Wird vorgeschlagen, ein Buch vorzulesen und das Kind erst danach ins Bett zu bringen, ist das Vorlesen vielleicht attraktiver. Und: Niemand sagt, dass das Vorlesen lange dauern muss – ein Pixi-Buch reicht. Es ist auch erlaubt, selbstkritisch zu fragen, ob mir selbst das Vorlesen überhaupt Spaß macht. Vielleicht gibt es jemand anderes im eigenen Umfeld, dem das Vorlesen mehr liegt? Die eigene, ablehnende Stimmung kann sich nämlich auf das Kind übertragen. Hier wäre es sicherlich besser, ehrlich mit sich zu sein und proaktiv andere Lösungen zu suchen, als es einfach zu lassen.